Ad «Wer sich von Software einen Mehrwert erhofft, lebt in den 90er-Jahren»

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INSIDE IT – Seit dem 1. August 2020 ist Franziska Reist nach 14 Jahren IBM bei der Migros für das Transformationsprojekt «Eiger» zuständig. Ein wichtiger Bestandteil davon ist die Migration auf SAP S/4 Hana. Was sie an SAP frustriert, sagte uns Reist im Interview.

Die Migration vom bestehenden SAP-System zu S/4 Hana geschieht ja nicht unbedingt freiwillig. Wie jeder andere Kunde wird auch die Migros von SAP dazu gezwungen. Wie beurteilen Sie diesen Zwang? Die Möglichkeit zur sequentiellen Migration relativiert diesen Zwang ein bisschen. Es ist möglich, Teilsysteme zumindest noch eine Zeit lang auf dem Status Quo zu belassen – beispielsweise, wenn man sich strategisch noch nicht sicher ist, ob diese wirklich noch gebraucht werden.
Dennoch gibt es eine harte Deadline – 2027 ist Schluss. Und es soll noch die Möglichkeit geben, gegen die Entrichtung einer Gebühr bis 2030 zu verlängern. Wie viel kostet sie? Das müssen Sie SAP fragen, wir spekulieren nicht darauf. Aus IT-Sicht hilft uns diese Deadline aber auch, weil man die Migration dem Business nicht erklären muss. Sondern sie ist einfach zwingend – fertig. Das gibt eine gute Vorwärtsdynamik und hilft uns.
Ein häufiger Kritikpunkt an S/4 Hana ist, dass SAP neue Funktionen einführt, die man zwar zahlen muss, aber gar nicht wirklich benötigt. Es hilft, wenn man SAP als Partner und nicht als Software-Lieferant betrachtet. Das war für die Migros eine schöne Reise – «Rise» (lacht) – mit SAP. Global gesehen waren wir beim Projektstart eine kleine Nummer…
… aber trotzdem ist SAP ein relevanter Bestandteil des Tech-Stacks, oder nicht? Genau, SAP ist einer unserer grössten und wichtigsten Software-Partnern, also muss man sie auch entsprechend behandeln. Das bedeutet, nicht einfach im Katalog auszuwählen, was man braucht und auf die Rechnung zu warten, sondern: Sich zu bekennen und partnerschaftlich zu denken.
Das heisst? Wir erneuern unseren digitalen Kern komplett. Das heisst «Rise with SAP», in unserem Fall auf Azure von Microsoft, nicht nur eine Brownfield-S/4-Migration oder weiterhin On-Premises. Wir haben für die gesamte Migros Gruppe ein umfassendes Enterprise Agreement abgeschlossen, inklusive Infrastructure-as-a-Service – als eines der ersten Unternehmen in der Schweiz. Damit sind wir keine «kleine Nummer» mehr, sondern mit SAP und Microsoft in einer Partnerschaft auf Augenhöhe – mit einer selbstbewussten, global etablierten Governance.
Aber zu den Kosten haben Sie jetzt noch nichts gesagt. Zahlt die Migros nach der Migration mehr oder weniger als heute? Es geht weniger um die Kosten, sondern mehr um die Risikobetrachtung. Heute ist das Risiko bei uns, weil wir SAP On-Premises in unseren eigenen Rechenzentren betreiben. Zukünftig haben wir das Risiko ausgelagert, auch was die Infrastrukturkosten angeht. Wenn diese steigen, betrifft uns das künftig nicht mehr im selben Mass wie heute. Diese Opportunitätskosten müssen unbedingt einkalkuliert werden, weshalb diese Frage gar nicht so einfach beantwortet werden kann.
Inwiefern hilft die Migration auf S/4 Hana der Migros punkto digitaler Transformation des Kerngeschäfts? Sind Prozessoptimierungen oder die Erschliessung neuer Geschäftsfelder überhaupt möglich? SAP behauptet dies zumindest. Wer sich erhofft, durch Software einen Mehrwert zu erhalten, lebt in den 90er-Jahren. So à la: ‹Wir machen jetzt eine App oder eine Website und sind dann digitalisiert!›. Software ist Mittel zum Zweck. Wir nehmen die Migration zum Anlass, uns zu verbessern, unsere Prozesse zu optimieren und vor allem zu standardisieren.
Wenn Sie von Standardisierung sprechen: Die Migros ist eine föderalistische Firma mit vielen Zweigen und eigenen Entscheidungsträgerinnen und Entscheidungsträgern. Wer macht bei der Hana-Migration alles mit? Ich bin für den genossenschaftlichen Detailhandel verantwortlich, was alle Läden, Warenwirtschafts-, Logistik- und Finanzprozesse beinhaltet. Denner, Migrol, Hotelplan oder Migros Industrie laufen separat, aber auch da sind wir dran.
Gab es vor dem Start dieses Migrationsprojektes einmal den Gedanken, SAP abzulösen – wenn auch nur für ein paar Sekunden? Nein, dafür wären Kosten und Nutzen nicht gegeben.
Sprechen wir kurz übers Projektmanagement. Wie sind Sie aufgestellt, wann haben Sie losgelegt und wann ist der Projektabschluss geplant? Wir führen die Transformation komplett nach dem «Scaled Agile Framework», kurz SAFe, durch. Unsere Implementierungspartner sind IBM und Retailsolutions. Angefangen haben wir im Mai 2021, und dauern wird es mehrere Jahre.
Mehrere Jahre heisst? Ich möchte mich nicht auf ein Datum festlegen. Es geht darum, mit allen Stakeholdern gemeinsam in Sequenzen zu denken; also mit den nächsten 1 bis 3 Releases und den nächsten Go-lives im Blick. Vernünftigerweise lässt sich ohnehin nicht länger als 3 Monate detailliert in den Teams vorausplanen. Dies entspricht auch der SAFe-Methodik.
Aber Sie wissen doch, wann Sie fertig sein wollen. Natürlich haben wir einen Investitionsrahmen freigegeben und haben dafür eine Annahme getroffen, wie lange alles dauert. Wir haben Top-down alles durchgerechnet, aber dieses Papier dann wieder in einer Schublade versorgt. Jeder Release wird Bottom-up nochmals geschätzt, in Abhängigkeit der anderen Releases geplant und ein enges Kosten-Tracking etabliert. Mithilfe von diesem Fokus soll niemand daran rumstudieren müssen, was wir 2026 als Beispiel genau machen.
Wie gross ist dieser Investitionsrahmen? Gross. Aber ich nenne keine Zahlen.
Sind 50 Millionen Franken zu hoch oder zu tief? Ich sage wirklich keine Zahl. Ohne den Kontext bringt das auch nichts und dieser ist schwierig zu erklären.
Was ist seit dem Projektstart vor 2 Jahren bis heute alles passiert? Wir sind mit dem Template des Finanzsystems und einer Genossenschaft live. Mit dem Template wurden die Finanzsysteme auf 1 konsolidiert. Zudem sind wir mit der konzeptionellen Arbeit zu 95% fertig. Meilensteine wie Zeit und Geld sind zwar schon wichtig, aber Erfolgsschritte sind genauso wichtig, finde ich.
Was waren die grössten Stolpersteine in der Konzeptionsphase, was war schwierig? Viel Energie gekostet hat uns der Aufbau der Organisation. Es muss viel getweakt werden, bis SAP nach SAFe ausgerollt werden kann und man die Governance im Griff hat. Die Migros ist im Grossen und Ganzen eine Betriebsorganisation und wir mussten die Transformationskompetenz für das Programm «Eiger» zuerst aufbauen. Bis die hunderten von Beteiligten «empowered» arbeiten konnten, hat es tatsächlich gedauert.
Wie beurteilen Sie die Unterstützung von SAP? Leider ist SAP nicht DevOps-ready. Das Unternehmen ist sich nicht gewohnt, dass Kundinnen und Kunden skaliert agil – nicht einfach ein bisschen in Sprints – arbeiten und Betrieb und Entwicklung aus einer Hand kommt. Deployments im Wochen-, Tages- oder gar Stundentakt kennt SAP in den meisten Bereichen nicht. Unsere Herausforderung ist es, trotz des «Korsetts» des SAP-Releases nach SAFe zu arbeiten.
SAP ist also keine Hilfe, kann man das so sagen? Als Software-Partner sind sie eine riesige Hilfe und eng involviert ins Projekt. Methodisch, in Bezug auf SAFe, DevOps oder gar SecDevOps haben wir gemeinsam noch einen Weg zu gehen. Da haben wir in der Migros als Vorreiterin selber viel Arbeit reingesteckt. Dieses «Ungleichgewicht» ist für mich etwas frustrierend, wenn man bedenkt, dass wir von einer marktführenden Software sprechen.
Wie viele interne Ressourcen sind insgesamt beteiligt? Viele (lacht).
Aber ich nehme an, dass Ressourcen dafür aufgebaut werden mussten? Wo fanden Sie in Zeiten von Fachkräftemangel SAP-Spezialistinnen und -Spezialisten, die alle anderen auch benötigen? Wir investieren viel in Employer Branding. Der «Purpose» der Migros ist integer und nachvollziehbar, die agile Arbeit zeitgemäss und macht Freude. Für Menschen ist die Migros zudem attraktiv, weil zum Beispiel keine globalen Reisen nötig sind. Ausserdem haben wir ein sehr gut funktionierendes Quereinsteigendenprogramm, schreiben alle unsere Stellen 60 bis 100% aus. Es ist ein ganzer Strauss an Massnahmen. Wir greifen aber auch auf Externe zurück.
Und warum heisst das Projekt eigentlich «Eiger»? Die Nordwand ist ja scheints nicht unbedingt einfach zu bezwingen. Es ist ein grosses und wichtiges Programm, insbesondere wegen der Standardisierung der Prozesse, die es mit sich bringt. Entsprechend ist es kein Üetliberg, aber auch kein Mount Everest. Aber ich habe gelernt, dass der Eiger bezwingbar ist. Wir nehmen nicht die Nordwand, sondern eine der anderen Routen. Aber ich finde es passend, weil es «gfürchig» aussieht und Respekt auslöst, aber dennoch ohne Sauerstoffgerät machbar ist.
Bild INSIDE IT: Eiger-Chefin Franziska Reist.
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