«Wir haben eine andere Rolle, als wütend zu sein» – das grosse Interview zu AHV-Graben, BVG-Reform und Frauenwahl 2023

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Aargauer Zeitung – Die AHV-Abstimmung hat die Frauen gespalten. Im Interview erklären Maya Graf und Kathrin Bertschy, die Co-Präsidentinnen von ­Alliance F, was es nun bei der Reform der zweiten Säule aus Sicht der Frauen im Minimum braucht. Und sie verraten, welche Ziele sie bei den Wahlen 2023 anstreben.

Sie waren gegen die AHV-Reform, Frau Graf, Sie dafür, Frau Bertschy. War die letzte Abstimmung ein Freuden- oder ein Trauertag für die Frauen?

Maya Graf: Der Grossteil der Frauen, die an der Abstimmung teilgenommen hat, hat die Vorlage abgelehnt. Das zeigen Nachwahlbefragungen. Insofern ist das Ergebnis eine Enttäuschung für die Mehrheit der Frauen. Sie waren betroffen und sie wurden von den Männern überstimmt. Auf jeden Fall ist es eine Verpflichtung, mit der Gleichstellung vorwärtszumachen. Die Rahmenbedingungen für die Erwerbsarbeit von Frauen sind in der Schweiz im internationalen Vergleich absolut mangelhaft – und das wirkt sich auf die Altersvorsorge aus.

Frau Bertschy, Sie gehörten zu den Siegerinnen. Verstehen Sie die Enttäuschung der unterlegenen Seite?

Kathrin Bertschy: Ja, ich kann diese nachvollziehen. Ich habe Ja gestimmt. Aber ich teile viele der Forderungen, die jetzt gestellt werden. Alliance F hatte sowohl ein Ja- als auch ein Nein-Komitee initiiert, da unsere Mitgliedsorganisationen bei der AHV-Reform unterschiedlicher Ansicht waren. Beide haben aber den gemeinsamen Nenner betont: Es braucht eine Verbesserung der finanziellen Situation der Frauen im Rentenalter.

Wie erreicht man das?

Bertschy: Die Kinderbetreuung muss erschwinglicher werden und es braucht eine Individualbesteuerung, damit es sich für Frauen lohnt, ihre Erwerbspensen zu erhöhen. Zudem müssen wir gleichen Lohn für gleiche Arbeit endlich realisieren. Und in der beruflichen Vorsorge braucht es die mindestens gleich gute Versicherung von tieferen Pensen und kleineren Einkommen. Sie werden heute mit dem fixen Koordinationsabzug im BVG benachteiligt, wovon Frauen überdurchschnittlich oft betroffen sind.

Sie sprechen die BVG-Reform an, mit der sich die zuständige Ständeratskommission am Donnerstag wieder befasst. Was sind die Mindestanforderungen, damit die Reform für Alliance F zufriedenstellend ist?

Graf: Ich sitze in der ständerätlichen Sozialkommission, welche das Geschäft berät und zu unser aller Enttäuschung vor einem Monat erneut vertagt hat. Unsere Kernforderung ist klar: Der fixe Koordinationsabzug muss abgeschafft werden. Das wird seit 35 Jahren von Politikerinnen aus fast allen Parteien gefordert. Wir verlangen zudem, dass alle Löhne über der Eintrittsschwelle in Zukunft anteilsmässig gleich versichert werden.

Bertschy: Ebenso konsequent haben wir immer gefordert: Es braucht eine finanzielle Entschädigung für jene Generation von Frauen, die diesem «Systemfehler Koordinationsabzug» unterworfen war und während ihres Erwerbslebens keine Chancengleichheit im Erwerbsleben und keine Lohngleichheit erlebte. Über andere Fragen – Umverteilungsmechanismen, der Kreis der Bezügerinnen, die Höhe der finanziellen Entschädigung – herrscht hingegen keine Einigkeit innerhalb der Alliance F. Schliesslich sind bei uns die Frauensektionen aller Parteien vertreten, entsprechend unterschiedlich sind die Ansichten.

Ist das nicht ein Problem? Die bisherige Debatte hat gezeigt, wie schwierig es ist, Kompromisse zu finden. Der BVG-Reform droht der Absturz.

Bertschy: Genau deshalb betonen wir die Punkte, über welche wir uns als Dachverband der Frauenorganisationen über die Parteigrenzen grossmehrheitlich einig sind. So sorgen wir dafür, dass diese prioritär behandelt werden und nicht unter den Tisch fallen wie in den vergangenen Jahrzehnten. Selbstverständlich wird es darüber hinaus Kompromisse brauchen. Hier stehen vor allem die Parteien in der Verantwortung.

Dieser überparteiliche Ansatz hat Grenzen. Nach der knappen AHV-Abstimmung gab es Kritik, etwa von SP-Nationalrätin Tamara Funiciello. Sie warf bürgerlichen Politikerinnen vor, ausser «leeren Versprechen» nichts für die Gleichstellung getan zu haben. Besorgt Sie das?

Graf: Die Hälfte der Bevölkerung besteht aus Frauen. Selbstverständlich gibt es unter ihnen unterschiedliche Meinungen und Ausdrucksweisen – von schrill bis still – wie es bei den Männern auch der Fall ist. Tamara Funiciello hat sich für diese Art des Protests entschieden, das ist in ihrer Verantwortung. Für uns steht der Handlungsbedarf im Vordergrund, konkret die Verbesserungen in der beruflichen Vorsorge und im Erwerbsleben. Und wir versuchen deshalb, Frauen über die Parteien hinweg so gut miteinander zu vernetzen, dass wir uns auf die gemeinsamen Ziele hinbewegen.

Das tönt wie ein Appell an mehr Zurückhaltung im Ton.

Graf: Nein, wir wollen das nicht beurteilen. Wir arbeiten konstruktiv und effizient an Lösungen, nutzen die politischen Instrumente und laden alle Seiten dazu ein, mitzuwirken. Was andere machen, müssen wir nicht kommentieren. Es ist jeder Frau frei gestellt, sich so politisch zu betätigen, wie sie es für richtig befindet – schliesslich gibt es keine einzig und alleinige Definition davon, was eine feministische Politik ist und wie sie ans Ziel kommt. Es braucht hier mehr Gelassenheit.

Bertschy: Frauen müssen sich auch nicht immer einig sein – wie es die Männer ja auch nicht immer sind. Wir haben innerhalb der Alliance F seit Jahren einen guten Umgang damit gefunden, dass es einerseits Fragen gibt, die uns entlang von Parteigrenzen trennen, dort fordern wir den gemeinsamen Nenner ein. Und es andererseits Fragen gibt, bei denen wir sehr einfach gemeinsame Lösungen finden.

Linke Kräfte wie Funiciellos SP sind bei Gleichstellungsanliegen meist sowieso an Bord, für Mehrheiten braucht es aber auch bürgerliche Stimmen. Steigt Alliance F immer schon mit dem Kompromiss in die Verhandlung, anstatt mit offensiven Forderungen?

Bertschy: Absolut nicht! Die Forderungen, die von der Frauensession vom Herbst 2021 erarbeitet worden, sind sicher nicht zurückhaltend, und sehr wohl berechtigt. Aber natürlich braucht es immer Mehrheiten und wir versuchen diese möglichst geschickt zu finden. Wir wollen den Ball zuletzt ins Goal schiessen und nicht in die Zuschauerränge ballern. So kommt man vorwärts.

Graf: Alliance F ist die grösste und war schon immer ganz bewusst eine überparteiliche Frauenallianz, die den gemeinsamen Nenner für Gleichstellung einfordert. Häufig ist dieser relativ gross, manchmal ist er auch klein, und dennoch wichtig, und kann auch noch wachsen.

Bertschy: Unsere Rolle ist eine andere, als wütend zu sein oder Wut zum Programm zu machen. Die Aufgabe von Alliance F ist es, mit den Instrumenten der Politik möglichst rasch vorwärtszukommen. Gleichzeitig hat es in der Vergangenheit schon immer auch die Frauenbewegung auf der Strasse, den Protest gebraucht. Die Gleichstellung von Frau und Mann in unserem Land kommt ja sehr langsam voran. Dieses Zusammenspiel wird es auch in Zukunft brauchen.

Wie wollen Sie bei der Altersvorsorge möglichst schnell politisch vorwärtskommen?

Bertschy: Egal wie die Mechanik der Altersvorsorge im Detail geregelt ist, man kann sie auf die einfache Formel bringen: Höhere Löhne und höhere Pensen führen zu höheren Renten. Viele Frauen wollen ja mehr arbeiten. Wir müssen die Hürden abbauen, die sie daran hindern. Die teure oder fehlende Kinderbetreuung, die steuerliche Benachteiligung von Zweiteinkommen, die fehlende Elternzeit: All das schreibt die Verantwortung für die Kinderbetreuung alleine den Frauen zu. Zum Glück wurde in dieser Legislatur einiges dafür eingespurt, damit diese Hürden abgebaut werden können.

Graf: Darüber hinaus müssen Teilzeit- und kleine Einkommen, aber auch Mehrfachbeschäftigte in der beruflichen Vorsorge fair versichert werden, dafür braucht es nun dringend diese BVG-Reform. Hier unterstützen uns die weiteren Frauen-Dachverbände geschlossen.

Seit den Wahlen 2019 sitzen so viele Frauen im National- und Ständerat wie noch nie. Sind Sie zufrieden mit dem bisher Erreichten?

Bertschy: Man muss zwischen den beiden Kammern differenzieren. Der Nationalrat hat ein anderes Gesicht bekommen, ein weiblicheres. In den vergangenen Legislaturen haben gleichstellungspolitische Themen oft wenig Raum bekommen, sie wurden verharmlost oder verniedlicht. Es war immer enorm schwierig, die mangelnde Gleichstellung, die ja eigentlich unsere gesamte Gesellschaft, aber auch unsere Wirtschaft belastet, nur schon auf die Agenda zu setzen. Das hat sich geändert: Der Nationalrat kann nun Sondersessionen zur Vereinbarkeit führen. Vorstösse werden mit Respekt behandelt und haben Chancen.

Und finden Sie auch Mehrheiten dafür?

Bertschy: Absolut. Im Herbst 2021 hat Alliance F gemeinsam mit ihren Partnerorganisationen die Frauensession organisiert. Diese hat 23 Petitionen erarbeitet, die nun eine nach der anderen in den Kommissionen des Parlaments behandelt und abgearbeitet werden, die Hälfte davon bereits erfolgreich. Erst in der Herbstsession hat der Nationalrat dem Bundesrat einen Auftrag für ein Gendermedizin-Programm erteilt, weil Frauen andere Symptome und Krankheiten zeigen und so heute grösseren medizinischen Risiken ausgesetzt sind. Im neuen Parlament sind solche Erfolge möglich.

Wie sieht es im Ständerat aus, Frau Graf?

Graf: Der Frauenanteil hat sich bei uns zwar auch verdoppelt, aber er ist mit 28 Prozent immer noch deutlich tiefer als im Nationalrat. Meine zwölf Kolleginnen und ich sind gut vernetzt und arbeiten insbesondere in den Kommissionen überparteilich zusammen. Im Plenum ist es sicher schwieriger als im Nationalrat, um bei gleichstellungspolitischen Themen Mehrheiten zu erreichen. Oft fehlen zwei oder drei Stimmen dafür. Wir brauchen also weitere Kolleginnen! Aber die Anliegen der Frauen werden ernster genommen, der Ständerat kann sie nicht länger einfach ignorieren.

Wo hat das weiblichste Parlament der Schweizer Geschichte ganz konkret in der Gleichstellung ganz konkret etwas erreicht?

Bertschy: Fortschritte in diesem Bereich werden mit einem steigenden Frauenanteil sicher einfacher, aber sie bleiben enorm schwierig zu erreichen. Alliance F hat nach den Wahlen 2019 ein eigenes «Gleichstellungslegislaturprogramm» mit sieben Massnahmen vorgelegt, weil der Bundesrat keine einzige konkrete Massnahme geplant hatte, und das, obwohl die Schweiz in Gleichstellungsrankings sehr schlecht abschneidet. Immerhin drei der Massnahmen hat das Parlament in die offizielle Legislaturplanung aufgenommen: Der Bundesrat muss eine Botschaft für die Individualbesteuerung und eine Botschaft für eine erschwinglichere Finanzierung der Kinderbetreuung vorlegen, wo unterdessen ein konkreter Gesetzesvorschlag auf dem Tisch liegt. Mit Vorstössen konnte zudem die Finanzierung für ein Gewalt-Präventionsprogramm erreicht werden, das insbesondere Frauen besser von häuslicher und anderer geschlechtsspezifischer Gewalt schützt. Und beim Sexualstrafrecht liegt eine Zustimmungslösung im Rahmen des Möglichen.

Das klingt jetzt sehr positiv. Provokativ gefragt: Können Sie sich jetzt zurücklehnen?

Graf: Im Gleichstellungsranking des Weltwirtschaftsforums WEF ist die Schweiz drei Plätze zurückgefallen. Wir müssen dranbleiben, es gibt kein Aufschnaufen. Aber die Frauenwahl hat etwas bewirkt! Die Themen liegen auf dem Tisch, alle müssen sich mit den Anliegen und Bedürfnissen der Frauen beschäftigen. Diese Kultur hatten wir vorher nicht. Deshalb ist dieser Wandel sehr wichtig.

Trotzdem: Sind Sie enttäuscht, dass Sie nicht mehr erreicht haben? Vielleicht auch wegen der Pandemie, welche das Parlament absorbierte?

Graf: Nein, ich bin nicht enttäuscht. Die grossen Geschäfte sind unterwegs: bezahlbare Kinderbetreuung, die BVG-Reform, die Revision des Sexualstrafrechts, die Individualbesteuerung. Das sind grosse Würfe, die Zeit brauchen. Im Unterschied zu anderen Legislaturen wurde sehr vieles auf den Weg gebracht. Und hat Chancen, durchzukommen. Die «Ehe für alle» inklusive Zugang Fortpflanzungsmedizin etwa wäre ohne den höheren Frauenanteil im Parlament nicht durchgekommen. Darum ist es auch wichtig für gesellschaftliche Fortschritte, dass der Frauenanteil bei den Wahlen nächstes Jahr nicht einbricht, sondern weiter steigt.

Interview: Christoph Bernet und Maja Briner

Bild: Severin Bigler

Das ganze Interview

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